Die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden kürte die Wortschöpfung „Wutbürger“ zum Wort des Jahres 2010. „Wutbürger“ stehe für die Empörung in der Bevölkerung, „dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden“. Die Bürgerinnen und Bürger verspürten ein großes Bedürfnis, über ihre Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei gesellschaftlichen und politisch relevanten Projekten zu haben.
Kein Zweifel: Das Jahr 2010 war das Jahr des „Wutbürgers“ – die Bürgerinitiativen in Hamburg (Schulreform), Bayern (Nichtraucherschutz) und vor allem in Stuttgart (Bahnhofsprojekt) waren dabei allerdings nur die prominentesten Ausprägungen dieser schnell wachsenden Spezies. Bundesweit schießen Bürgerinitiativen aus dem Boden, die sich gegen lokale Projekte wie Biogasanlagen, Windräder und Stromleitungen wenden.
Überall dort bricht der Wutbürger – wie der SPIEGEL-Journalist Dirk Kurbjuweit schreibt – mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, also Gelassenheit, Contenance.Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker und wendet sich von den Parteien ab.
Damit liegt das Spannende des Wortes in seiner Zusammensetzung von Wut und Bürger. „In dem Wort steckt ein gewisser Widerspruch“, meint Kurbjuweit. Sonst gelte der Bürger, zumal der deutsche, als ruhig und zurückhaltend. Sein Motto: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Kurbjuweit sagt: „Nur selten zeigt der Bürger seine Wut.“ Doch jetzt tut er es, und das neue Wort belegt auch nach Ansicht von Prof. Peter Schlobinski von der Uni Hannover eine neue gesellschaftliche Realität: „Der Protest ist in die bürgerliche Mitte gerückt.“Diese skeptische Mitte will bewahren, was sie hat und kennt – im Zweifel auch zu Lasten einer guten Zukunft des Landes.
Der Wutbürger wehrt sich gegen den Wandel.Deshalb beginnt sein Protest in dem Moment, da das Bauen beginnt, also die Unannehmlichkeit. Nun schiebt er all die bürgerlichen Tugenden beiseite und hat nur noch – überspitzt formuliert - das Eigene und das Jetzt im Blick. Die Auszeichnung zum Wort des Jahres adelt also all diejenigen, die „Dagegen“ sind. Aber ist das nicht zu einfach? Wut geht ja in Ordnung, wenn sie denn konstruktive Kräfte freisetzt.
Denn das Zusammenleben in unserer Gesellschaft, unsere Wirtschaftsordnung, unsere Infrastruktur – all das muss aktiv gestaltet werden.Davon ist aber Veränderung die logische Folge. Hier muss Kommunikation ansetzen: Veränderungen müssen frühzeitig erklärt und plausibilisiert werden, die Menschen müssen mitgenommen werden.
Denn ist aus dem guten Bürger erst ein Wutbürger geworden, ist es für dialogische Kommunikationsansätze zu spät.Spannend wird also, wie es für den Wutbürger 2011 weiter geht. Kehrt er zu seiner inneren Mitte zurück oder tobt er im neuen Jahr wieder?War das Jahr 2010 nur ein Ausreißer in der Geschichte der parlamentarischen Demokratie oder erstreitet sich der Wutbürger im neuen Jahr das Recht, Mitentscheider-Mensch zu sein? Was denken Sie?