Plädoyer für mehr Maß und Mitte!
- Wo bitte bleiben die Gemäßigten?
- Wenn sich die Mitte lautlos gibt, dröhnen die Ränder.
2020 ist anders. Ein historisches Jahr wird später zu lesen sein. Eine neue Zeit bricht an. Eine, die zum Aufbruch einlädt! Das Heute ist bereits das Gestern. Nur das Morgen und das Übermorgen zählt. Aber was genau wird werden? Die nachzulesenden Kommentare und Deutungsversuche über die Welt von Morgen überschlagen sich in rascher Folge. Eifrige Auguren wittern: Eine neue Menschheitsepoche sei angebrochen. Alles wird eben anders. Weil es nicht mehr so sein kann, wie es einst war.
Zuweilen erwecken nämlich die Einlassungen auf analogen und digitalen Informationsträgern diesen Eindruck. Die Einsicht, dass wir zu lange untätig waren, ist frappant häufig anzutreffen. Fast wie in Konkurrenz zueinander überbieten sich Politiker, Wissenschaftler und Wirtschaftsbosse in der Deutung von Ursache und Wirkung. Vor Corona war es allerdings seltsam ruhig. Dieser plötzliche Stimmungswandel irritiert. Nicht, dass er kommt irritiert, sondern das „Plötzliche“. Klar und unbestreitbar ist, wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher. Aber mal ehrlich, hat das nicht jeder Vernunftbegabte längst begriffen? Sind Einsicht und Bereitschaft für Veränderungen in weiten Teilen der Bevölkerung nicht ohnehin vorhanden?
Der Reihe nach: In Corona-Zeiten zeigt sich, dass in der Vergangenheit hierzulande nicht alles im Argen lag. Milliardenkredite, die gewährt werden konnten aufgrund soliden Wirtschaftens, ein den akuten Belastungen trotzendes Gesundheitssystem, vernetzte Forschung, die frühzeitig testete und auswertete, eine in Summe disziplinierte Gesellschaft, eine hadernde, aber insgesamt zuverlässige Politik, Unternehmen, die in Innovationen und nachhaltige Geschäftsmodelle investieren, die Liste ließe sich beliebig verlängern. All das zeugt im internationalen Ländervergleich von Verantwortung und Weitsicht.
Außer Frage stehen dringende, notwendige Veränderungen, wie etwa die rasche CO2-Reduktion, Eindämmen der Umweltbelastungen, mehr Innovationsoffenheit, Digitalisierungsoffensive, gleiche Bedingungen von Frauen und Männern im Beruf, und und und. Es muss sich etwas ändern, damit es gut wird.
Die Pandemie und der Verbleib im Homeoffice forcieren auf beeindruckende Weise unsere Arbeitswelt: Nutzung flexibler, mobiler und partizipativer Arbeitsformen, wie etwa digitale Konferenzen, E-Learning, Dialogplattformen. Digitales Arbeiten ist gekommen, um zu bleiben. Zur Wahrheit gehören aber auch die Relevanz des persönlichen Gesprächs, die Verbindlichkeit der Nähe durch unmittelbare Begegnungen, die Produktivität des Miteinanders im analogen Raum, das Erinnerbare, welches dem Vis-a-vis zu eigen ist. Das bleibt wichtig und sollte nicht abgeschafft werden. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Das Digitale bildet das Soziale nur bedingt ab. Die an mancherorten erhobenen Forderungen, Büros und feste Arbeitsplätze gänzlich abzuschaffen und alles von zuhause aus zu erledigen, sind wohlfeil gemeint, aber nicht sinnstiftend. Die Lösung liegt, wie so oft, in der Mitte. Beides geht – aber eben mit Maß und Mitte.
Wobei wir beim Kern sind. Wer will schon die Mitte? Mitte ist nicht attraktiv. Mit Mitte verbinden wir Mittelmaß, Durchschnitt, Schulnote drei. Alle wollen doch eher vorne mitspielen. Mitte ist nicht sexy. Auch nicht für die Medien. Weil die Mitte nicht polarisiert. Mit Ausgewogenheit bekommt man keine Headlines. Also wird überspitzt, übertrieben, gefordert, verhöhnt, diskreditiert und geschrien, was das Zeug hält. Das schafft Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, das haben wir gelernt, ist die neue Währung im digitalen Zeitalter! Follower, Kommentare und Likes streicheln das Ego und ab und an auch das Konto.
Wer laut ist, macht aufmerksam. Die Sorge ist, dass der, der am lautesten schreit, auch am meisten Gehör findet. Sind diese Stimmen repräsentativ? Ist das die Mehrheit? Nein, die nämlich schweigt. Und das nicht erst seit Corona. Das war auch vorher so. Es liegt in der Natur der Menschheit, dass die Lauten, die Ungemäßigten, die Empörten mehr öffentlichen Raum, mehr Aufmerksamkeit erhalten, als die Gemäßigten. Das mag man beklagen.
Gemeint ist nicht die politische Mitte, sondern eine wohlüberlegte, eine gemäßigte gesellschaftliche Mitte. Eine Mitte, die reflektiert, die abwägt, die überlegt, bevor sie loslegt. Eine Mitte, die es sich nicht leicht macht. Die nicht plappert, die eher nach Worten ringt. Deshalb ist sie die Mitte. Und das macht die Sache schwierig. Man könnte der Mitte nun vorwerfen, sie lege sich nicht fest. Sie hätte keine Meinung. Oder wie es heute heißt: Keine Haltung. Aber das stimmt nicht. Die Mitte ist klar. Sie ist eben dadurch geprägt, dass sie tolerant, einsichtig, reflektiert und abwägend ist. Man könnte sagen, sie sei eine Sowohl-als-auch-Position. Sie sagt nicht, wir müssen jetzt alle digital werden, sie sagt auch nicht, wir müssen zurück zu alten Arbeitsformen mit Präsenzpflicht. Sie plädiert für ein ausgewogenes Verhältnis, das beide Lösungen nebeneinander präferiert.
Zurückhaltung gehört leider auch zu den vornehmen Eigenschaften der Mitte.
Liebe Mitte, wenn du nicht willst, dass die Polarisierenden, die Empörten und Maßlosen die mediale Agenda bestimmen, dann überwinde deine Scheu und positioniere dich. Das würde einer Maß-und-Mitte-Gesellschaft sicherlich gut bekommen. Und es würde die Vernunftbegabten sichtbarer machen. Das könnte Hoffnung geben!