Mal Hand aufs Herz: Reagieren Sie auch mit zunehmendem Unverständnis und Kopfschütteln, wenn Sie sich an Wahlabenden pünktlich nach den ersten Hochrechnungen diese Platitude anhören müssen? Fragen Sie sich nicht auch: Wäre diese „gründliche Analyse“ gar nicht notwendig, wenn man sich schon vor der Wahl Gedanken über den Status quo – also über die Stimmung im Lande – gemacht hätte?
Das gilt im Übrigen nicht nur für die „hohe“ Politik: Im Sommer 2018 war die Analyse-Ankündigung auch in höchsten Fußballkreisen angelangt. Jogi Löw kündigte nach dem WM-Debakel der deutschen Nationalmannschaft eine „gründliche Analyse“ an. Geändert hat er an seinem Spielsystem sowie – zunächst – an seinem Personal nur wenig. Gut, sein ehemaliger Assistenztrainer hat nun eine andere Funktion. Ob das der große Schritt für den Wiederaufstieg der Nationalmannschaft sein wird? Wo bleiben die Lehren aus derartigen Misserfolgen?
Tatsächlich bewegt sich Löw mit seiner Reaktion in bester Gesellschaft und greift auf eine mittlerweile mehrjährig ausgetestete Kommunikations-Taktik deutscher Spitzenpolitiker zurück. Denn ganz gleich welche Partei(en) es bei den vergangenen Wahlen in den letzten Jahren traf, die Aussage der Wahlverlierer war stets dieselbe: „Wir werden keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Wir werden das Ergebnis zunächst einmal gründlich analysieren“. Und was kommt dann? Ja, genau das fragt sich nämlich der gemeine Wähler. Denn was ist damit gemeint? Hier ein Interpretationsversuch:
„Ja, es ist offensichtlich, warum wir von den Wählern abgestraft wurden. Jeder weiß es. Aber schon in wenigen Monaten wird unsere Niederlage bereits wieder halb in Vergessenheit geraten sein. Sie wird längst von den Ergebnissen der nächsten Wahl eingeholt sein. Lassen wir doch einfach etwas Gras darüber wachsen. Gerne geben wir als gute Geste eine Analyse in Auftrag, deren Ergebnisse wir zudem selbst mitsteuern können. Dann werden wir auch zwei, drei Fehler einräumen, über die wir sprechen können. Ja, genauso machen wir das. Und dann: Augen zu und weiter so!
“Mit Verlaub: Dieses Verhalten ist das Gegenteil des Mutes, den unsere liberale Demokratie benötigt – gerade in einer Zeit, in der diese Demokratie immer stärker von unterschiedlichen Kräften in Frage gestellt wird. Die großen Herausforderungen unserer Zeit liegen auf dem Tisch – aber kaum jemand stellt sich ihnen.
Es wird lieber gestritten als konstruktiv Politik zu gestalten: die Migrations- und Integrationsfrage, die globale Herausforderung des Klimawandels und die bundesdeutsche Wohnungskrise. Überall steht das parteipolitische Geplänkel im Vordergrund, nicht aber die Lösung! Es fehlt unserer Politik am Mut, beherzt und engagiert Lösungen zu erstreiten.Ob die Lösungsangebote der Wahlgewinner tatsächlich besser sind, steht auf einem anderen Papier. Aber sie werden kommuniziert. Mutig, deutlich und mit dem Selbstbewusstsein, in der Sache richtig zu liegen. Die Wahlverlierer hingegen bieten den Wählern, da können Sie sich gewiss sein, auch bei der nächsten Wahl wieder dasselbe alte, rochierende Personal – frei von Visionen, frei von einer mutigen Kommunikation, dafür aber zugeschnürt mit Sorgen um die eigene Zukunft.
Jede Ankündigung einer neuerlichen gründlichen Analyse verhindert eine echte Aufarbeitung und einen echten Neuanfang – und bereitet somit bereits das nächste Debakel vor. Denn schlimmer ging es bislang für die ehemals so stolzen Volksparteien noch immer. Unser Appell: Niemand erwartet, dass direkt am Wahlabend vorschnell Konsequenzen gezogen werden sollten. Aber die Bürger erwarten, dass Sie Konsequenzen ziehen. Echte Konsequenzen. Personell wie inhaltlich. Verschieben Sie Ihre Entscheidungen über Personal und Inhalte nicht solange, bis Ihre nächste Wahlniederlage erneut unvermeidbar wird. Die Bürgerinnen und Bürger dieser Demokratie erwarten von der Politik das Bekenntnis zu einer klaren Sprache und zum Mut, die großen drängenden Themen anzugehen. Die Analysen dafür sind gemacht. Jetzt gilt es, die Herausforderungen endlich anzupacken!