Die Rede des DAX-Vorstandsvorsitzenden auf der virtuellen Hauptversammlung
- Die digitale Inszenierung wird komplexer
- Anforderungen an den CEO steigen
- Hauptversammlungen als kommunikative Bewährungsprobe
Frühlingsanfang ist die große Zeit der Hauptversammlung (HV)!
Und damit auch die Saison der großen Aufritte. Für die CEOs der DAX-30 Konzerne ist es die allseits mit Spannung erwartete Rede zur Lage und zum Ausblick des Unternehmens. Für viele Vorstandsvorsitzende die wohl bedeutendste Veranstaltung im Jahr.
Bei der HV-Rede gelten grundsätzlich strengere Bewertungsmaßstäbe als bei gewöhnlichen Auftritten. Gleich mehrere Organisationen bewerten die Performanz des CEO.
So gibt es seit 2012 den Verständlichkeitsindex der Uni Hohenheim, der wissenschaftlich Kriterien erforscht, wie etwa passive Satzkonstruktionen, die Anzahl der (oft englischen) Fachausdrücke, Schachtelsätze oder die Satzlänge. Kurzum: Was sich messen lässt, wird gemessen. Zudem gibt es das alljährliche Rhetorik-Ranking, das gemeinsam mit dem Handelsblatt Noten für die Sprecherqualitäten der Vorstandsvorsitzenden verteilt. Der CEO unter dem Brennglas einer kritischen Öffentlichkeit!
Der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) bewertet ebenfalls die Redeleistungen der DAX-Vorstände nach strengen Kriterien. Quasi im Scoringverfahren werden Punkte u. a. für den Aufbau der Rede, Verständlichkeit, Nachvollziehbarkeit, Argumentation, Sprachgefühl, Intonation vergeben. Somit lassen sich Vergleiche anstellen. Wer zählt zu den Spitzenperformern, wer hält sich wacker im Mittelfeld und wer landet abgeschlagen auf den hinteren Plätzen?
Alles nur Show, möchte man meinen. Doch weit gefehlt: Die Bewertung der CEOs weckt den Sportsgeist und die Eitelkeit vieler Topmanager.
Kräftemessen ist was für Alphatiere – zwangsläufig ist also klar, dass hier vorher ordentlich trainiert wird. Tempo, Technik, Titel: Das Rennen ist eröffnet! Als Ersatz für die wahrscheinlich wieder mal ausfallende Fußball-Europameisterschaft dürfen wir nun alle bequem mit der Tüte Chips und einem Kaltgetränk vor dem Rechner Platz nehmen und schon vorher in Tippgemeinschaften wetten, wer diesmal die Meisterschale – symbolisch – mit nach Hause nehmen darf.
Diesmal ist alles anders! Das Setting ist anders! Die Anforderungen sind andere!
Wer die virtuellen politischen Ansprachen der Politiker*innen auf den Parteitagen in letzter Zeit verfolgt hat, weiß wie die politische Elite mitunter hilflos vor konstruierter Kulisse in den leeren Raum hineinspricht – oft mit Verve in Stimme und Gestik. Dabei versucht sie, das Ganze wie eine Präsenzveranstaltung wirken zu lassen. Der Rede des CEO auf der virtuellen HV fehlt ebenfalls der Kontakt zum Publikum. Eine Herausforderung für Redner*in und Publikum gleichermaßen.
Eine gute halbe Stunde konzentriert in die Kamera zu sprechen ist anstrengend. Gerade weil die üblichen Reaktionen des Publikums aus der Vor-Pandemie-Zeit nun ausbleiben. Selbst das zustimmende Nicken, Kopfschütteln oder der fragende Blick darf als Dialog gewertet werden. Dies alles ist Feedback und spornt an, den Kurs zu halten oder auch nachzulegen.
“Reaktionslose” Monologe erschöpfen schnell die Geduld und Aufmerksamkeit der Zuhörenden.
Visuelle Performance und ihre Spielmöglichkeiten hat in virtuellen Räumen Hochkonjunktur. Charts, Einspieler, Animationen, visuelle Geschichten wirken wie eine kreative Frischzellenkur für den Kopf, machen merkfähiger und dienen gezielt der besseren Perzeption. Galt in der „Vor-Digitalen-HV-Welt“ die ungeteilte Aufmerksamkeit nahezu vollständig dem Redetext, kommen in der virtuellen HV nun viele Details zusammen, die die Wirkung der Rede in Summe ausmacht.
In der Vergangenheit konnte das zumeist bewegungsarme Bild des Redenden hinter dem schützenden Rednerpult gut kaschiert werden. Nicht so im digitalen Fenster: Vorträge brauchen eine kluge und durchdachte Regie.
Je stimmiger der Auftritt, desto aufmerksamer und zugewandter folgen wir den vorgetragenen Inhalten.
Überzeugende Auftritte auf der Bühne sind harte Arbeit. Da sollte nichts dem Zufall überlassen werden. Talent fällt zudem selten vom Himmel. Wie im Theater will jedes Detail durchdacht und geprobt sein. Was genau erzielt die gewünschte Wirkung? Da stellt sich die Frage: Sollte der digitale CEO Unterricht in Schauspielkunst nehmen? Performen wie ein Profi im Filmgeschäft? Etwa wie in einer Netflix-Serie?
Die Antwort fällt nicht eindeutig aus. Klar ist indes: Die Jobdescription, was Auftritte und gewünschte Wirkung betrifft, braucht ein Update. Digitale Performance hat eben andere Ansprüche. Da müssen auch gestandene Unternehmenspersönlichkeiten erneut die Schulbank drücken. Es heißt dann: Üben, üben, üben!
Jede Führungskraft wird vermutlich einen eigenen, individuellen Weg des Vortragens finden. Das ist auch gut so! Lieber einen Tick zurücknehmen, als krampfhaft zu versuchen, Atmosphäre zu schaffen. Was für das Social Distancing gilt, findet auch im virtuellen Vortrag Anwendung: Abstand mit richtigem Maß kann auch Nähe schaffen!
Da kommt einiges an Arbeit zusammen – die Erwartungen an die oberste Spitzenkraft sind immens! Durchsetzungskraft und Überzeugung mit geradem Rücken, fester Stimme, klarem Blick – wer das mitbringt, dem traut man auch große Veränderungen zu!
Fazit: Gute Reden geschehen aus Überzeugungskraft. Überzeugung, weil sie qua Argumentation, stimmig, nachvollziehbar und empathisch vom Redenden vorgetragen werden. Kraft, weil sie erst durch die Wirkung der vortragenden Persönlichkeit selbst die angemessene und gewünschte Wirkung erzielen. In Zeiten der digitalen HV eine professionelle Aufgabe, die es sorgsam vorzubereiten gilt.
Damit die Jury gute Gründe hat, Sie nach vorne zu wählen!